Netanjahu zum Holocaust-Gedenktag: Falsche Lehren

Am heutigen Holocaust-Gedenktag gedachten die Bürger Israels ihrer Millionen Toten. Als ich 1990 das erste mal in Israel war, geriet ich unvorbereitet in diese Trauerminuten. In Tel Aviv, wo wir  kurz zuvor angekommen waren, ertönten die Sirenen. Der gesamte Verkehr kam abrupt zum Erliegen. Aus den Fahrzeugen stiegen die Menschen aus. Auf den Bürgersteigen lief niemand weiter. Alle standen regungslos da, die meisten mit gesenkten Kopf. Radios und Fernseher in den Cafes, Kiosken und Restaurants waren verstummt. Eine unheimliche Situation. Und doch könnte kaum etwas das besser versinnbildlichen, dessen damit gedacht wird.

Denn der millionenfache Massenmord war auch das: Das absolut Unvorstellbare. Das Außerkraftsetzen des normalen Lebens. Ein daher völlig unwahrscheinliches Ereignis. Was könnte unwahrscheinlicher sein als eine quirlige, vor Lebenslust pulsierende  Großstadt namens Tel Aviv, die von einer Minute zur nächsten zum völligen Stillstand kommt? Es ist wie ein aus-der-Zeit-fallen.

Premierminister Netanjahu mahnte in seiner heutigen Rede in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, man habe aus dem Holocaust möglicherweise noch nicht die richtigen Lehren gezogen. Man müsse sich dem Bösen rechtzeitig entgegen stellen.

Unverklausuliert sprach er dabei den Iran an, der fortgesetzt damit drohe Israel auszulöschen:

If we have learned anything from the Holocaust, it is that we must not be silent or be deterred in the face of evil. […]

The world goes about its business as though its a fuss about nothing [als wäre es viel Getöse um nichts] while Iran steps up its efforts to arm itself with nuclear weapons and threatens to wipe Israel off the map […]

The historical failure of the free world in facing the Nazi beast was in not confronting it when it could still be stopped, […] today we witness the fire of the old-new hate, the hate of the Jews being spread by the regimes and organizations of radical Islam, spearheaded by Iran and its cohorts.

Derzeit haben sich rund vierzig Nationen in Washington versammelt, um über die Zukunft von Nuklearwaffen und das heikle Thema der Vereitung zu diskutieren. Inoffiziell geht es auch um mögliche Sanktionen nicht-militärischen Sanktionen gegen den Iran. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu hatte sich von diesem hochrangig besetzten Treffen kurzfristig abgemeldet.

Russlands Präsident Medwedjew hat heute, am Rande dieses Treffens, Israel in einem Interview mit dem US Sender ABC vor einem Angriff auf die iranischen Atomanlagen gewarnt, da dies einen nuklearen Konflikt ausklösen könnte, der die Welt in eine kriegerische Spirale stürzen könnte.

Man lerne nichts aus der Geschichte, heißt es oft in einem vorwurfsvollen Ton. Doch die Frage lautet: Was sind die richtigen Lehren aus der Geschichte? Die Antwort Netanjahus unterscheidet sich offenbar von der Medwedjews. Der israelische Autor Amos Oz meinte einmal sinngemäß, in Israel debattiere man deshalb so hitzig über Politik, weil es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod ginge. Im Westen über Politik diskutieren hiesse dagegen, über Steuersätze oder den Mietpreis zu streiten…

— Schlesinger


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