Wikipedia und der Nahostkonflikt

Wikipedia zuverlässig
Am Boden zerstört: Zivil-Flugzeug Beirut 1982

Wir sind nicht Wikipedia

In seinem lesenswerten Buch “Homo Deus” schreibt der Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari, “wir” würden Wikipedia schreiben.

Daraus kann man zwei Dinge schließen.

Erstens: Harari hat zu diesem Detail seine Hausaufgaben nicht gemacht. Denn längst ist bekannt:

Studien haben gezeigt, dass
Inhalte auf Wikipedia unter der Voreingenommenheit ihrer Redakteure leiden
hauptsächlich
technisch orientierte,
englischsprachige Angestellte,
die in mehrheitlich christlichen, entwickelten Ländern
in der nördlichen Hemisphäre leben.

Laut einer oft zitierten Studie sind über 90 Prozent der überwiegend ehrenamtlichen Redakteure von Wikipedia männlich.

Wie schreiben wohl weiße, christliche, westliche, männliche Autoren über die palästinensisch-arabische Seite im Nahostkonflikt?

Zweitens: Harari arbeitet nicht selbst an Wikipedia-Artikeln.

Sonst hätte er mit einiger Wahrscheinlichkeit die Erfahrung gemacht, wie man trotz besserer Argumente sehr schnell an etablierten Wikipedia-Autoren oder Administratoren scheitern kann.

Selbst einschlägige Quellennachweise aus Sachbüchern, die von renommierten Wissenschaftlern stammen helfen nicht weiter, wenn es dem zuständigen Editor nicht behagt.

Die bewußte oder unbewußte Voreingenommenheit der weißen, christlichen, westlichen, männlichen Editoren wirkt sich selbstverständlich auch auf die Darstellung des Nahostkonflikts aus.

Im Folgenden zwei “gute” Beispiele aus dem englischen Wikipedia (dt. Übersetzung durch mich).

Warum sind es gute Beispiele? Weil es um den Kriegsbeginn geht, also um die Frage “Wer hat angefangen?” und damit um Recht oder Unrecht.

Warum aus dem Englischen? Weil der Nahostkonflikt mit den USA steht und fällt, und weil sich die öffentliche Meinung in Amerika zum Nahostkonflikt gerade auch aus den Informationen speist, die von Wikipedia bereitgestellt werden.

Beispiel 1:

Sechstagekrieg 1967

Über den Anfang des Sechstagekriegs von 1967 heißt es gleich zu Beginn des englischen Wikipedia – Artikels:

Im April 1967 schoss Syrien auf einen israelischen Traktor [auf den Golan-Höhen], der in der entmilitarisierten Zone pflügte, was zu einem Vorkriegs-Luftkampf eskalierte.

Der lernbegierige Wikipedia-Leser erfährt also:

Syrien hat mit den Aggressionen angefangen.

Nur: Der damalige israelische General, Verteidigungsminister und Volksheld Moshe Dayan hat nach dem Krieg in einem Interview Folgendes gesagt:

Es lief etwa folgendermaßen ab:

Wir schickten einen Traktor, der ein bestimmtes Grundstück in der entmilitarisierten Zone [auf dem Golan] um­pflügen sollte, mit dem man sonst nichts anfangen konnte, wobei wir von vornherein wussten, dass die Syrer zu schießen beginnen würden.

Wenn sie nicht gleich feuerten, haben wir den Traktorfahrer angewiesen, noch ein Stück weiter zu fahren, bis die Syrer schließlich die Nerven verloren und schossen.

Dann haben wir zurückgeschossen und schließlich die Luftwaffe geschickt.

Erkennen Sie den Unterschied?

Beachte: Es geht hier nicht um einen Traktor, sondern darum einen potenziellen Feind so lange zu provozieren bis man einen Kriegsgrund gefunden hat.

Moshe Dayan und die übrigen Hardliner in Israel wußten genau, was sie taten.

Sie wußten, daß ihre Armee derjenigen von Syrien und Ägypten weit überlegen ist.

Sie wollten die Chance nutzen Syrien und Ägypten militärisch hart zu treffen.

Sie haben ihre Chance bekommen, weil Premierminister Levi Eshkol zu schwach war, sich zu widersetzen.

Beispiel 2:

Libanonkrieg 1982

Am Anfang des Wikipedia-Beitrags zum Libanonkrieg ist zu lesen:

Der Libanonkrieg 1982 begann am 6. Juni 1982, als die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) in den Südlibanon einmarschierten, nach wiederholten Angriffen und Gegenangriffen zwischen der im Südlibanon operierenden Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und der IDF, die auf beiden Seiten der Grenze zivile Opfer gefordert hatten.

Das Datum des Kriegsbeginns ist noch korrekt.

Die “wiederholten Angriffe und Gegenangriffe” zwischen der PLO und der israelischen Armee als Kriegsgrund zu nennen – und nichts anderes – ist irreführend.

Israel suchte einen Kriegsgrund

Tatsächlich hat die PLO im vorangegangenen Jahr 1981 vom Südlibanon aus vermehrt Angriffe gegen israelische Siedlungen im Norden Israels durchgeführt. Washington schickte Sondervermittler Habib, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Beide Seiten stimmten dem Waffenstillstand im Juli 1981 zu.

Amos Oz schreibt in seinen Buch “Die Hügel des Libanon“, daß dieses knappe Jahr zwischen Juli 1981 und dem israelischen Einmarsch in den Libanon im Juni 1982 die vielleicht ruhigste Zeit war, die Israel seit seinem Bestehen 1948 hatte.

Die PLO hielt sich an den Waffenstillstand.* Israel nicht. Im Gegenteil: Israel versuchte durch eine Vielzahl von Nadelstichen die PLO zu einer größeren Reaktion zu verleiten – vergeblich.

Wesentlich für den Einmarsch Israels sind andere Gründe.

1981 wurde die rechts-konservative Regierung des Hardliners Menachem Begin (Likud) im Amt bestätigt. Begin bestellte den Falken Ariel Scharon zum Verteidigungsminister.

Mit Amtsantritt arbeitete Scharon Pläne für eine Invasion des Libanon aus. Die PLO sollte ebenso wie die syrische Armee aus dem Libanon vertrieben werden. Die Syrer waren jedoch im Auftrag der Vereinten Nationen im Land. Sie sollten in dem seit 1975 vom Bürgerkrieg  geschundenen Land für Ruhe sorgen.

Libanon als Marionettenstaat

Im Januar 1982 ging Scharon inkognito nach Beirut, um sich mit der christlichen Miliz der Phalangisten zu treffen. Die Phalangisten sagten Scharon für den Fall eines Einmarschs ihre Unterstützung zu. Im Gegenzug erwarteten sie die israelische Unterstützung um an die Regierungsmacht zu kommen.

Der Libanon sollte nach dem Willen Scharons ein Vasallenstaat Israels werden. Die Phalangisten unter ihrem Führer Bashir Gemayel hätten eine bestens versorgte Marionettenregierung stellen dürfen.

Das war nichts anderes als die Umsetzung der Vision, die Moshe Dayan bereits 1955 (!) hatte:

Alles was man braucht ist ein [libanesischer] Offizier. Ein Hauptmann würde genügen, man muss ihn nur für uns gewinnen oder ihn mit Geld kaufen, um ihn dazu zu bringen sich als Retter der maronitisch-christlichen Bevölkerung auszurufen.

Dann marschiert die israelische Armee in den Libanon ein, besetzt die nötigen Gebiete, setzt ein christliches Regime ein, das sich mit Israel verbündet.

Scharon versuchte die Rückendeckung Washingtons zu bekommen. Von den großen Umgestaltungsplänen Scharons war dort nicht die Rede. Nur von der drohenden Gefahr der PLO, die früher oder später beseitigt werden müsse.

Nach mehreren Gesprächen mit Reagans Sicherheitsberater Alexander Haig traf am 28. Mai 1982 ein Brief Haigs ein. Darin wurde Israel letztlich Grünes Licht gegeben. Die Amerikaner dachten, sie würden eine begrenzte militärische Strafaktion billigen.**

Der Anlaß für den Krieg war rasch da: Die von der PLO abtrünnige Abu-Nidal-Gruppe verübte ein Attentat auf den israelischen Botschafter in London. Die israelische Führung wußte, dass das Attentat nicht auf das Konto von Jassir Arafats PLO ging.

Die israelische Armee war längst in Wartestellung. Der Einmarsch in den Libanon konnte bereits drei Tage später beginnen.

Danny Rubinstein von der damals großen israelischen Tageszeitung Davar schrieb zutreffend: Scharon und Begin wollten diesen Krieg unbedingt, um die PLO zu vernichten. Denn die Alternative wäre gewesen, die längst gemäßigter auftretende PLO als Verhandlungspartner ernst zu nehmen. Damit aber wäre die Frage der palästinensischen Selbstbestimmung auf dem Tisch. Das durfte nicht geschehen. Besser also ein Land in Schutt und Asche bombardieren.

Die weißen, christlichen, westlichen Männer von Wikipedia beschreiben das alles etwas anders.

Deutsches Wikipedia: Antizionismus und Antisemitismus sind im Grunde dasselbe

Es war vor allem der langjährige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der internationale Kritik an Israel – vor an der Besatzung der Palästinenser – als Antisemitismus verstanden haben wollte. Das Kalkül war so einfach wie wirkungsvoll: Wenn die Kritiker Antisemiten sind, ist ihre Kritik ungerechtfertigt. Wikipedia.de unterstützt im Grunde diese interessengeleitete Interpretion und sagt gleich eingangs:

Antizionismus lässt sich nur schwer von Antisemitismus unterscheiden.

Der israelische Historiker Tom Segev meint dazu (aus meiner Sicht zurecht):

(die) englischen und deutschen Wikipedia-Einträge für „Antizionismus” […] sind sehr unterschiedlich […].

Ich stimme nicht der Behauptung zu, dass „Antizionismus sich nur schwer von Antisemitismus unterscheiden“ lässt, wie im deutschen Wikipedia-Eintrag angegeben.

[…] die Unterdrückung der Palästinenser (wird) oft aus echter Besorgnis und aus Zuneigung für den Zionismus und Israel heraus kritisiert. Tatsächlich kommen einige der schärfsten kritischen Äußerungen von den Israelis selbst.[…]

Ich sehe jedoch keine Rechtfertigung dafür, eine negative Einstellung gegenüber einer bestimmten Politik der israelischen Regierung […] oder der zionistischen Ideologie automatisch als antisemitisch zu bewerten. Eine solche Brandmarkung wird oft benutzt, um die anhaltende israelische Unterdrückung der palästinensischen Araber zu verteidigen.

— Schlesinger

PS.: In meinem Beitrag habe ich zugunsten von Wikipedia angenommen, dass “nur” die natürliche Voreingenommenheit zum Tragen kommt, wenn eine bestimmte Gruppe von Autoren die Artikel dominieren. Vollends fragwürdig wird es, wenn vorsätzliche Manipulation ins Spiel kommt. Dazu:

Unbedingt lesen: Nachdenkseiten / Wikipedia & Desinformation.

Darin: Wie Israel mit erheblichen staatlichen Mitteln versucht gefällige Darstellungen im Netz zu platzieren; oder wie ein deutsch-jüdischer Wikipedia-Editor mit dem Alias “Feliks” u.a. den Eintrag von Nirit Sommerfeld auf verleumnderische Art verzerrt hat.

Übrigens: Das israelische Wikipedia blendet Kritik an Israel aus.

Photo: Phan Robert Feary (Wikipedia PD)

* Es gab Angriffe von dissidenten palästinensischen Splittergruppen in der Westbank und von Jordanien aus, von denen sich Arafat distanzierte.

** Vgl. Bericht “The Green Light” des Haaretz-Reporters und Militärspezialisten Zeev Schiff, Foreign Policy No. 50, 1983

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