Hebron und der Tote mit dem Ständer

Gratulation zum ersten Toten

Es gibt einen Toten, wurde per Funk durchgegeben. Der Sanitätsoffizier fragte in die Runde, wer sich darum kümmern will. Sie habe sich gleich gemeldet, erzählt die  junge israelische Sanitätssoldatin Meytal, die kurz zuvor nach Hebron versetzt worden war:

Mit meinem Kameraden Yoni preschten wir in der Ambulanz zum Einsatzort. Dort luden wir den Toten auf. Die Leiche lag unter einer Decke. Aber das hielt den Gestank nicht ab. Yoni und ich kämpften ständig dagegen an kotzen zu müssen. Zurück in der Baracke befahl man uns die Leiche zu waschen und die Blutergüsse zu beseitigen. Man müsse die Leiche der Autonomiebehörde zurück geben. Die sollten nicht sehen, was passiert ist. Also fingen wir an. Der Mann hatte schwere Kopfverletzungen. Weil er nicht gleich gestorben war, sondern langsam verblutete, haben seine Schließmuskeln versagt. Das ist normal, ein Körperreflex. Er hatte sich vollgeschissen und vollgepisst. Also haben wir ihn mit einem Wasserschlauch abgespritzt.

Die Soldaten gratulierten Meytal zu ihrem ersten Toten. Es war nicht der letzte. Irgendwann wurde es Routine, meint sie.

Einmal wurde einer gebracht, den wir wie immer neben die Toiletten im Freien gelegt haben, um ihn mit dem Wasserschlauch zu waschen. Da sahen wir dass er eine Erektion hat. Das muss man sich vorstellen, da lag ein Toter mit einem Ständer.

Da haben wir ein bisschen gekichert. Weil der Mann im Freien lag konnten das alle sehen. Eine Gruppe andere Sanitätssoldatinnen kam heran. Meytal sagte zu einer “Mach mal ein Photo von mir!”, stellte sich neben den Toten und ließ sich fotographieren.

Beim Erzählen dieser Episode muss die ehemalige Soldatin immer wieder heftig schlucken. Sie versucht ein Lächeln, um nicht weinen zu müssen. Das gelingt ihr im Laufe ihres Erzählens immer weniger.

Es ist eine von vielen Episoden aus der Dokumentation der israelischen Filmemacherin Tamar YaromTo see if I am smiling“.

Eine andere Soldatin berichtet, sie sei mit einer festen Weltanschauung in die besetzten Gebiete gegangen. Aber dort war alles anders, als sie es sich vorgestellt hatte. All das was sie gesehen und getan habe, habe ihren Wertvorstellungen und ihrer Moral widersprochen. Aber man konnte nicht einfach gehen.

Man spricht nicht über das Grauen

Einmal hat sie als Einsatzleiterin gesehen wie Jungs in der Nähe eines Armeepostens streunten. Ihr Herz habe wie wild angefangen zu pochen. Adrenalin pur. Sie setzte Dutzende Funksprüche ab, die würden was im Schilde führen, gab sie durch, das sehe nach einen Anschlag mit einer Brandbombe aus. Verschiedene Patrouillen eilten zum befohlenen Einsatzort. Die Einsatzleiterin verfolgte die Szene vom Wachturm aus. In Hebron kann die israelische Armee fast alles von oben beobachten. Sie dachte sich über die Burschen “Macht schon was! Na los, tut was!” Denn es wäre eine wirklich unangenehme Lage gewesen, wenn sie Alarm ausgelöst hätte und nichts wäre passiert. Man musste auf seinen Status achten, sagt sie. Dann ging der Brandsatz hoch. Nur, es war keine Brandbombe. Die Kinder hatten etwas Brennbares über einen Haufen Müll gegossen, der mitten auf der Straße lag, und angezündet. Die Soldaten schossen. Dann kam der Funkspruch “Wir haben einen Oleander!“. Oleander. Es gab einen Toten. Eins der Kinder wurde erschossen.

Die Soldatin sagt, sie redet nur selten darüber. Als sie einmal auf Fronturlaub war, rief sie ihre Kameradin an und sagte ihr, sie bekomme ihre Hände nicht sauber. Sie könne das Blut nicht abwaschen. Ihre Kameradin habe gelacht und gar nicht verstanden, dass es kein Witz war. Nein, nicht die Armee hat das Kind getötet, sagt sie lächelnd, ich habe es getötet. Das Lächeln ist kein zynisches Lächeln. Es ist ihr Schutz.

Der Schutz funktioniert bei ihr besser als bei der ehemaligen Sanitäterin Meytal: Das mit den Photos neben dem Toten hat sie versucht zu verdrängen. Es gelang ihr aber nicht, erzählt sie. Sie will diese Aufnahmen noch einmal sehen. Sie will sehen wie sie selbst damals ausgesehen hat. Möchte wissen, ob sie damals gelächelt hat. To see if I am smiling.

Dann fährt sie zu der Soldatin, die damals die Photos gemacht hat. Beide sitzen im Wohnzimmer zusammen. Meytal blättert das Album durch, die ganzen Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit in Hebron. Sie rauchen dabei und trinken etwas, reden wenig, die Stimmung ist gedrückt. Ganz hinten im Album, nicht eingeklebt und wie aus Scham umgedreht kommen die  anderen Photos.

Vorsichtig nimmt Meytal das erste Photo und wirft einen Blick darauf. Ihr Gesicht verzerrt sich in schierem Horror und voller Abscheu, sie schaut auf die Seite, kann das Zittern ihrer Hände nicht beherrschen, umklammert ihre hochgezogenen Beine. Sie steckt sich mühsam eine Zigarette an und sieht mit tränengefüllten Augen aus dem Fenster, ins Leere. Nach einer Weile, als sie sich etwas gefasst hat, sagt sie in müdem Tonfall “Wie konnte ich nur glauben, das vergessen zu können?”*

Als Israel nach dem sogenannten Sechstagekrieg von 1967 die Westbank und Gaza besetzte, glaubten nicht wenige siegestrunken, man erlebe die Erfüllung der Prophezeiungen und sei nun Herr über das ganze Land Israel.

Der in Israel vielleicht bekannteste politische Philosoph Yeshayahu Leibowitz sah klarer und meinte unmittelbar nach dem Krieg:

Israel muss sich von diesem Fluch befreien ein anderes Volk zu beherrschen.

Eine fortgesetzte Herrschaft über die Palästinenser bringt eine Katastrophe für das gesamte jüdische Volk.

Der ehemalige Knesset-Abgeordnete und Friedensaktivist Uri Avnery fügt an:

im Gespräch mit vielen Soldaten wurde ich überzeugt, dass es fast unmöglich ist dem Druck  innerhalb derArmee zu widerstehen. Die Gehirnwäsche ist intensiv und unerbittlich.

Die Besatzung an sich wurde zu einem Monster, dem niemand dienen kann ohne seine Humanität zu verlieren.

Beider Ansichten, die von Leibowitz und die von Avnery, werden durch jede Szene in der Dokumentation von Tamar Yarom bestätigt.

Der letztlich einzige Grund für Israel die Besatzung beizubehalten und das militärische Regime zu führen, das es dort führt, ist die Geiselnahme der israelischen Gesellschaft durch kleine, aber überproportional einflußreiche Gruppierungen.

Im wesentlichen handelt es sich um verschiedene nationale und religiöse Gruppen, die einen radikalen, messianischen Zionismus teilen. Zum zweiten handelt es sich um Profiteure wirtschaftlicher Art. Dazu gehören Immobilienbarone, aber auch die Wasserwirtschaft oder Unternehmen innerhalb der Westbank, die von den billigen Arbeitskräften vor Ort profitieren. Zum dritten gehören politische Eliten dazu, die im Bündnis mit den vorgenannten Kräften die größten Vorteile sehen, sofern sie nicht aus innerer Überzeugung ohnehin das “ganze Israel” wollen. Von außen massiv unterstützt wird diese Melange durch die Millionen fundamentalistischer Christen in den USA, die ebenfalls ein Großisrael als Vorbote der Rückkehr des Messias betrachten.

Im Fleischwolf

Die jungen Israelis, die ihrer Wehrpflicht nachkommen und das oft in naiver Absicht gerne tun, geraten in diesen unerbittlichen   Fleischwolf.

Wer nicht von Haus aus anti-arabische Sentiments mitgebracht hat, hat gute Chancen sie aus der Armee mitzunehmen. Denn für den einzelnen Soldaten gilt immer nur die persönliche Erfahrung. Du wirst im Jeep mit einem Steinhagel beworfen, unzählige Blicke zeigen dir die größte Verachtung, und womöglich stirbt ein Kamerad oder gar ein Freund bei einem Attentat.

Es wäre übermenschlich, finge in so einer Lage ein Soldat an zu überlegen, dass das alles womöglich nicht ihm gilt, sondern einem brutalen Besatzungsregime, in das er hineingeriet ohne zu ahnen was auf ihn zukommt und ohne die Hintergründe zu kennen. Für die Palästinenser ist jeder einzelne israelische Soldat ein Teil der Unterdrücker-Regimes und sie hassen ihn dafür. So nimmt der Soldat all diese Erfahrungen persönlich und sieht den Steinewerfer und irgendwann alle anderen als seine Feinde.

Qualen am Checkpoint

Wie erzählte die eine Soldatin in der Dokumentation? Irgendwann habe sie gar nichts mehr gefühlt. Ob sie einer angelächelt hat, habe sie nicht mehr registriert. Nachdem eine Freundin ums Leben kam, hatte sie nur noch Aggressionen, ließ an einem heißen Sommertag 60 oder 70 Leute an ihrem Checkpoint 14 Stunden in der Sonne stehen, brüllte sie an, ließ sie “antreten” und Liegestütz machen. Die anderen Soldaten seien daneben gestanden und hätten nichts dagegen unternommen. Na ja, fügt die Soldatin an, so außergewöhnlich war es ja auch nicht.

Wer nach der Armeezeit unter dem Erlebten leidet, so wie die Frauen in der Dokumentation Yaroms und zahllose andere, schweigt zumeist.

Die Berufszyniker wie Netanjahu oder Verteidigungsminister Ehud Barak, die gerne von der israelischen Armee als der “moralischsten der Welt” fabulieren, wissen um diese uralten psychologischen Mechanismen und können auf deren Wirksamkeit vertrauen.

Die Jungen zahlen den Blutzoll.

– Schlesinger

PS.: Kann man Mitleid mit Tätern haben? Mit Soldaten – auch wenn es eine Frau ist – auf deren Geheiß ein Zehn- oder Zwölfjähriger erschossen wird? Ja. Weil Täter Opfer sein können. Opfer eines Systems, das sie in eine Lage gebracht haben, die sie nie wollten.

Dringende Leseempfehlung: Das Werk des jüdischen Franko-Canadiers Jonathan Littell “Die Wohlgesinnten”

* Die Schilderungen der Interviews sind keine Zitate. Ich habe sie niedergeschrieben, nachdem ich den Film gesehen habe: Deshalb ist der Film verlinkt.

Die Doku: Ein Muss für jeden, der ein realistisches Bild von der Besatzung haben will. Dieser Film einer israelischen Regisseurin zeigt, dass es nicht darum gehen darf pro-israelisch oder gegen Israel oder für die Palästinenser zu sein. Er zeigt das einzig relevante: Es ist notwendig gegen die Besatzung zu sein.

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