Das gute Leben – so billig

Deutschland befindet sich in einer Krise. Seit Jahren. Es ist nicht nur eine Krise der Ökonomie, sondern auch und möglicherweise vor allem eine Krise der Mentalität.

Das Folgende ist

Ein unwillkommener Beitrag zur Moraldebatte inmitten der Krise.

Die Krise der Ökonomie ist in aller Munde. Die Krise der Mentalität nicht. Dabei meine ich nicht eine Kulturdebatte, wie sie vermutlich seit Menschengedenken geführt wird. Gemeint ist vielmehr die Wandlung vom Bürger zum Verbraucher.

Wie konnte es so weit kommen, dass die Bürger sich selbst degradiert haben zu reinen Konsumenten? Verzeihen Sie, das ist viel zu höflich formuliert.

Der zentrale Begriff der Entwürdigung lautet “Verbraucher“.

Die Entwürdigung ist eine Selbst-Herabsetzung. Niemand hat die Bürger dazu genötigt, sich zum bloßen Verbraucher zu entwürdigen.

Niemand zwingt sie Tonnen an billigem Unrat zu kaufen, die de facto tagtäglich gekauft werden. Die Verbraucher können offenbar der Gier nicht widerstehen,  immer mehr und noch mehr zu kaufen.

Das zwanzigste Billig-T-Shirt, das nach drei Wäschen aussieht wie ein gutes T-Shirt nach 50 mal waschen. Die hundertste CD (wenn sie nicht raubkopiert wird). Das fünfzehnte Paar Billig-Schuhe vom Deichmann. Und dazu Massen an Trödel und Nippes, den man sich gar nicht vorstellen mag.

Man werfe einen Blick in die Einkaufswägen, die aus den LIDLs und ALDISs und PENNYs und meinetwegen auch Tengelmanns und … und … und … herausgeschoben werden. Oh nein, da sieht man nicht nur die nötigen “Lebens-Mittel” (die allzuoft keine Lebensmittel, sondern Industrie-Artefekate sind), sondern beliebige Mengen an all den so furchtbar nützlichen Sachen, die im Vorbeigehen, weil sie so “praktisch” und vor allem “billig” sind, mitgenommen werden.

Oh nein, es geht bei diesem Phänomen überwiegend nicht darum, dass der Langzeit-Arbeitslose oder die Oma mit der schmalen Rente jeden Cent umdrehen müssen, und daher keine andere Wahl haben, als bei günstigen Anbietern das Nötigste einzukaufen. Darüber will ich in diesem Kontext kein Wort verlieren. Klammern sie diesen Punkt gedanklich bitte aus.

Den AUDI bei LIDL zusammensparen

Vor den Billig-Märkten jeglicher Couleur stehen viel zu viele BMWs und Mercedesse und AUDIs, als dass man allen Ernstes davon sprechen kann, es seien die Massen an Bedürftigen, die sich hier versorgen müssten.

An diesem Punkt wird es kritisch.

Das gute Leben – so günstig

Was bedeutet es, wenn Otto Normalverbraucher mit einem begrenzten Einkommen sich daran gewöhnt hat, ständig diese ach so nützlichen Dinge zu kaufen?

Ganz einfach: Um viele, sehr viele Dinge gleichzeitig oder innerhalb kurzer Zeit kaufen zu können, muss jedes einzelne Teil möglichst billig sein. Sonst müsste man das tun, was früher das Natürlichste auf der Welt war: So lange sparen, bis man sich das eine, das man wollte, leisten konnte. Das hat man sich längst abgewöhnt.

Da wir nicht von dem einen Hans Müller reden, sondern von Hunderttausenden, ja Millionen von Hans Müllers, entsteht eine ungeheure Wirkung.

Die Industrie wird – neben ihrem angeborenen Profitstreben – von ihm, dem braven und anständigen Durchschnitts-Verbraucher geradezu genötigt, möglichst billig zu produzieren. Denn das Anbieten normaler, qualitativ hochwertiger Ware, die zu einem fairen, festen Preis und nicht zu einem “Schnäppchenpreis” hergestellt wird, wird allzu schnell vom in diesem Fall überaus mächtigen Verbraucher bestraft.

Belohnt werden die LIDLs und ALDIs, die die Milchbauern erpressen, um den Liter zu Preisen abzugeben, die aus der Nachkriegszeit zu stammen scheinen.

Wer zwingt den Verbraucher zu dieser Handlungsweise? N i e m a n d.

Billig produzieren müssen bedeutet auf Seiten der Industrie natürlich auch bei Löhnen und Gehältern einsparen müssen. Im Zweifelsfall wird die Produktion ins Ausland verlagert. Dann produzieren billige fleissige Chinesinnen die billigen T-Shirts oder das (für Apple) günstige IPhone für den preis- oder trendbewussten Deutschen.

Das Billig-T-Shirt muss dann gezwungenermaßen vom zuvor entlassenen Textilarbeiter gekauft werden, der sich kraft Entlassung keine Marken-Shirts mehr leisten kann oder es vorsichtshalber nicht mehr will. Und schon wieder gibt es einen, hundert, tausend, zehntausende von Konsumenten, die den Preisdruck erhöhen und damit …

Denkt der Verbraucher mit normalem Job, mit normalem Einkommen daran, wenn er immer wieder aufs Neue billig einkaufen will? Nein.

Gefährlich: Das Billige kommt allzu oft auch adrett daher. Man macht doch bestimmt nichts falsch, wenn man wie Millionen andere seine Regalwand bei IKEA kauft (von anderen Möbelverramschern gar nicht zu sprechen). Dass IKEA seine Hersteller in Rumänien und andernorts preislich so heftig presst wie es nur irgend geht, ist dem vermeintlich trendigen, meist jung-dynamischen Möbelkäufer egal. Kann ich bei IKEA sparen, kann ich mir gleich das nächste Schnäppchen leisten! Zugegeben: Dieser Gedanke wird meist nicht gedacht. Diese Dinge “passieren” einfach.

Der Verbraucher sägt sich in größter Fressgier den Ast ab, auf dem er sitzt. Und wie um ihn dabei gleichzeitig zu fördern und zu verhöhnen, verkaufte IKEA zum Nikolaustag das Pfund Butter zu 50 Cent. Großartig, diese Spektakel!

Der Verbraucher als Gottesanbeter

Was kümmerts diese verfressene Heuschrecke namens Verbraucher? Die reibt sich die Hände und freut sich.

Kennen Sie das Bild der Gottesanbeterin, die in aller Seelenruhe eine Beute frisst, während sie vom Ende ihres Leibes her schon selbst von einem anderen Jäger aufgefressen wird?

Das ist der Verbraucher, der vom Verbraucher aufgefressen wird und es nicht bemerkt, sondern in aller Ruhe weiter frisst.

Was soll er sich heute sorgen, wenn er seine vielen Sachen letztlich von dem bezahlt bekommt, der in der Verbraucher-Hackordnung unter ihm steht: Dem Milchbauern, der offenbar unter Repressalien stehenden LIDL-Verkäuferin, der chinesischen Textilarbeiterin, dem Fliessband-Schreiner in Rumänien etc.pp.

Ist diese Anklage eine Verteidigung der Industrie? Nein.

Es ist eine dringend nötige Korrektur zum allzu verzerrten und einseitigen Bild, das den Verbraucher stets als Opfer und Unschuldslamm zeigt.

Dieses Zerrbild rührt daher, dass man einen Telekom-Ricke oder POST-Zumwinkel schön als Einzelne herauspicken und anklagen kann. Demgegenüber hat der Verbraucher den Vorzug, im anonymen Heer der Millionen abtauchen zu können. Und das ist das Wesen der Heuschrecke: Allein ist sie nichts, en masse wirkt sie verheerend.

Das sogenannte einfache Volk fühlt sich sehr verhoben in letzter Zeit: Von denen da oben. Doch längst vor Beginn der öffentlich wahrnehmbaren Krise konnte man sich schon verhoben fühlen vom Verbraucher-Volk.

Denn unabhängig von all den Subprime– und Automobilkrisen: Die Mentalität der Verbraucher hat nicht nur zu dieser Krise beigetragen (unwahrscheinlich billige Kredite für Häuser, die man sich eigentlich nicht leisten kann), sondern war schon für sich genommen Ausgangspunkt einer enormen Krise, die sich früher oder später entladen musste.

Niemand wurde, niemand wird gezwungen, sich als Verbraucher so aufzuführen, wie es seit allzu langer Zeit geschieht.

— Schlesinger

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